KI und Identität: Sind Sie noch authentisch oder schon ein Algorithmus?
Wir schreiben das Jahr 2008, eine Zeit, in der soziale Netzwerke noch Neuland sind und Mark Zuckerberg nicht als Unperson gilt, sondern als junger, aufstrebender Visionär. Unter dem Leitmotiv “Authentische Kommunikation” gründen wir unsere Agentur Callies & Schewe. Dieser Slogan passt über ein Jahrzehnt lang so perfekt wie meine neuen Skechers in Größe 11.
Es herrschte eine spürbare Sehnsucht nach Authentizität. Menschen und Unternehmen strömen zu den neuen sozialen Plattformen. Sie wollten sich präsentieren, die Welt verändern. Authentizität war der Magnet, der Konsumenten und Marken anziehen sollte. — Aber, seien wir ehrlich, diese Zeit ist vorbei. Wir haben deshalb unseren Slogan kürzlich gestrichen. Nicht weil er obsolet geworden ist, sondern weil sich das Verständnis von Authentizität und Identität radikal wandelt.
Authentizität im Zeitalter der KI
Einst war eine öffentliche Identität ein Luxusgut. Reserviert für die Könige, Künstler und Wahnsinnigen. Heute lässt sich diese schneller verändern als ein Wikipedia-Eintrag über Helene Fischer. Ein Filter hier, ein Swipe dort, und voilà, das neue Ich ist geboren. Und was geschieht jetzt, wenn die Maschinen aktiv und selbsttätig in die Kunst der Identitätsgestaltung eingreifen?
Künstliche Intelligenz (KI) wird zusehends menschlicher. Sie durchdringt jeden Aspekt unseres Lebens. Sie liest unsere Nachrichten, kennt unsere Interessen oft besser als unsere engsten Freunde und Familie. Sie versteht unsere Vorlieben, unser Verhalten und möglicherweise bald sogar unsere Ethik so gut, dass sie schon sehr bald ein überzeugenderes “Ich” darstellen könnte als wir selbst. Sie kann unseren nächsten Lebenslauf oder Liebesbrief verfassen, in unserer Sprache, mit unseren Gedanken. Sie könnte sogar in unserer Stimme singen. Sind das dann nicht mehr “Wir”?
Zeitalter der “Emergenten Identitäten”
Die Antwort könnte in einer aufgefrischten Version von Authentizität liegen, die auf dem Prinzip einer “Emergenten Identität” aufbaut. Emergenz meint: Aus vielen kleinen Teilen, wie Erfahrungen, sozialen Kontexten und digitalen Codes, entsteht spontan etwas Neues, Größeres, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Stellen Sie sich vor, Ihre digitalen und echten Ichs sind keine abgeschlossenen, statischen Gebilde, sondern eher wie eine Rockband, deren Musiker im Zusammenspiel – in Echtzeit – improvisieren, sich dabei gegenseitig inspirieren und sich jederzeit radikal verändern können. Rocken wir unser Leben jetzt in einer Zeit der “Emergenten Identitäten”, erschaffen durch Technologien und soziales Miteinander? Das klingt ebenso verrückt wie faszinierend.
Halten wir an diesem Punkt allerdings inne. Noch kann die KI nicht ohne menschliche Aufsicht und Entscheidungsfähigkeit auskommen. KI-Systeme, so ausgefeilt sie auch sein mögen, agieren immer im Rahmen der Algorithmen, mit denen sie programmiert wurden. Sie können weder Eigenverantwortung übernehmen noch ethische, gestalterische oder moralische Entscheidungen treffen. Der Mensch bleibt relevant – gewinnt aber ein mächtiges Werkzeug hinzu und vergrößert seine Möglichkeiten ins Unendliche.
Und damit landen wir am Ende – wie bei fast allen Diskussionen über neue Medienformen – bei Marshall McLuhan. Er hatte schon 1984 festgestellt: Medien sind “Extensions of Man”. Vom Faustkeil bis zum Smartphone haben wir Technologien entwickelt, die unser Selbst erweitern. Und nun, im Zeitalter der KI, gehen wir jetzt eben den letzten Schritt: Wir erschaffen multiple Versionen und Welten von uns selbst.
Also fürchten wir uns nicht vor der Maschine. Sie ist bereits ein Teil von uns. Die Tür zu unzähligen Möglichkeiten, wie wir noch sein könnten. Sie öffnet neue Räume und Freiheiten. Und nur wer wirklich frei ist, kann auch authentisch sein.