Digitalisierung in Estland: Vom Sowjetstaat zum Vorreiter Europas
Von Gastautor Florian Hartleb
Die SIM-Karte ist der Personalausweis. Für die Steuererklärung reicht ein Mausklick. Und die eigene Firma ist in der Weltrekordzeit von 18 Minuten und drei Sekunden gegründet. In Estland sind Wirtschaft und Gesellschaft längst digitalisiert. Ein Erfahrungsbericht aus dem europäischen Silicon Valley.
Wer als Deutscher in die 400.000 Einwohner-Stadt Tallinn nach Estland kommt, sieht ein Weltkulturerbe – und trifft überall auf High Tech. Die Stadt pulsiert: junges, internationales Publikum, lebendige Subkultur, starke Musikszene.
Das Hipster-Viertel Telliviski erinnert an den Prenzlauer Berg und die Aufbruchsstimmung im Berlin der 90er-Jahre. Parkautomaten werden hier ganz selbstverständlich per Smartphone bezahlt. Freelancer finden mit schnellem, kostenlosem WLAN überall perfekte Arbeitsbedingungen vor. Im rohstoffarmen Baltenstaat haben junge Politiker die Bedeutung von Software und Daten bereits sehr früh erkannt. Die Digitalisierung als Leitmotiv Estlands wurde quasi “von oben” verordnet. Schon seit 1999 arbeitet das estnische Kabinett papierlos. Anfangs noch mit stationären Computern, mittlerweile mit Laptops und Tablets. Zu den Kommunalwahlen 2005 und den Parlamentswahlen 2007 hat das Land ein landesweites E-Voting eingeführt. Der Internetanschluss gilt als soziales Recht. Viele Akten, etwa Grundbücher, gibt es nicht mehr in Papierform. Kopierläden sucht man selbst in der Hauptstadt Tallinn vergebens. Amtliche Mitteilungen erscheinen seit Juli 2003 ausschließlich online. Internationale Medien erkennen deshalb in Estland einen Trendsetter Europas. Sogar das Cyber-Security-Zentrum der NATO ist hier angesiedelt.
Unternehmensgründung binnen Minuten
Durch die „E-Residency“ ist hier fast alles online regelbar. Jeder kann diese elektronische Identität für einen längeren Aufenthalt in Estland erwerben. Egal, ob EU-oder Nicht-EU-Bürger. Formulare werden digital unterschrieben. Unternehmen lassen sich binnen Minuten gründen. Entsprechend dynamisch entwickelt sich die Start-Up-Szene. Viele träumen von einer Erfolgsgeschichte wie der von Skype, dessen Backend tatsächlich hier erfunden und programmiert wurde. Am besten läuft es derzeit beim Unternehmen Transferwise, das sein größtes Office in Tallinn hat. Die Gründer haben einen Peer-to-Peer-Geldtransfer erfunden, der weltweite Überweisungen günstiger macht. Das Start-up wird heute mit über einer Milliarde Dollar bewertet. Estland lockt Jungunternehmen mit einer überzeugenden digitalen Infrastruktur. Als eines der ersten Länder weltweit stellt es bald auf den Mobilfunkstandard 5G um.
Industrie 4.0 und E-Government als perfekte Kombination
Anders als in Deutschland sind Senioren voll in den digitalen Prozess eingebunden. Fragen Deutsche, ob die Digitalisierung des Lebensalltags nicht zu einer Zweiklassengesellschaft geführt hat, ernten sie Kopfschütteln. Die Generation 60 plus beteiligt sich überdurchschnittlich stark an den landesweiten Wahlen. Einfach via Mausklick. Ständig kommen Besuchergruppen aus Politik und Wirtschaft, um sich hier etwas abzuschauen. Im E-Estonia-Showroom, gleich neben dem Flughafen, sehen sie dann, wie die Zukunft in der Gegenwart funktioniert. Für die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wären die deutsche Industrie 4.0 und das estnische E-Government eine perfekte Kombination, wie sie kürzlich bei ihrem Staatsbesuch in Tallinn sagte. Will Europa mit den USA, Israel, Indien, China und Singapur endlich in den digitalen Wettbewerb treten, muss es sich hier neu erfinden. Wenn Estland im zweiten Halbjahr 2017 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, könnte von hier aus ein notwendiger Ruck ausgehen. Digitalisierung fängt hier auf Kindesbeinen an: Programmieren lernen Schüler schon im Grundschulalter. Es ist beeindruckend, wie Kinder in den Klassen zusammen an technischen Problemen arbeiten, Roboter zusammenbauen und zum Laufen bringen.
Über 200 staatliche Dienstleistungen laufen elektronisch
94% der Bürger nutzen mittlerweile die 2002 eingeführte elektronische ID-Karte. Sie ist die Voraussetzung für die Nutzung der E-Services und kompatibel mit dem Mobiltelefon (E-Estonia.com). Weit mehr als zweihundert staatliche Dienstleistungen lassen sich heute mit diesem elektronischen Ausweis nutzen. Er ist Identitätsnachweis und Türöffner für digitale Dienste und Behördengänge, etwa für die virtuelle Gesundheitsdatenbank, über die Ärzte Rezepte zustellen und erneuern. Das hat den praktischen Vorteil, dass man gleich zum Orthopäden oder Augenarzt gehen kann, ohne vorher den Hausarzt wegen einer Überweisung aufsuchen zu müssen.
Seit 2007 sind die gleichen Dienste auch über eine Mobile ID verfügbar. Postgänge sind weitestgehend überflüssig, da die digitale Signatur gleichberechtigt neben der handschriftlichen Unterschrift steht. Möglich macht das eine zertifizierte Software, mit der Esten jede beliebige Datei digital signieren können. Das Verfahren ist so einfach wie etwa eine Konvertierung von Word zu PDF. Basis ist die so genannte X-Road, ein bereits 2003 eingeführtes zentrales System innerhalb von dezentralen digitalen Plattformen (eesti.ee). Auf der Datenstraße tauschen verschiedene E-Dienstleister und Datenbanken ihre Informationen aus. Der Einzelne kann dort seine behördlichen Angaben abrufen. Dabei gilt nicht: Big brother is watching you. Behörden können nur auf Informationen zugreifen, die für sie bestimmt sind. Jeder User kann per Log-Datei immer einsehen, wer wann welche Informationen abgefragt hat. Missbräuchliche Zugriffe werden streng geahndet.
Deutschland hängt hinterher
Die Steuererklärung auf dem “virtuellen Bierdeckel” ist in Estland längst verwirklicht. Bereits 2012 hatten 95 % der Esten die Steuererklärung auf elektronischen Wege eingebracht – weltweit ist das einzigartig. Im Gegensatz zu vielen Deutschen halten die Esten die digitale Speicherung und Weiterverarbeitung ihrer Daten übrigens sogar für sicherer als den Umgang mit Papier. Die Bürgerinnen und Bürger sparen sich dort die allermeisten Verwaltungsgänge. Von Hochzeiten, Scheidungen oder Notarterminen abgesehen.
In Deutschland dagegen macht vor allem der Datenschutz der Digitalisierung schwer zu schaffen. Das zeigen die jüngsten Debatten um die Gesundheitsakte ebenso wie die digitale Unterschrift. Vor allem aber fehlt es an einer breiten Diskussion in der Gesellschaft, von Jung und Alt. Gerade der Mittelstand ist sehr skeptisch. Doch viel Zeit bleibt nicht mehr. Die digitale Transformation ist andernorts bereits auf dem nächsten Level angekommen.
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Dr. Florian Hartleb ist Politikberater und Experte für E-Government. Er arbeitet von Tallinn aus für Unternehmen und Behörden in ganz Europa.